Es gibt Künstler*innen, denen ziemlich schnell die Themen ausgehen. Sie machen ein gutes Album, vielleicht zwei – und spätestens beim dritten besteht alles nur noch aus Wiederholungen und Selbstzitaten. Und es gibt Ina Müller.
„55“ heißt ihr neues Album und ist damit ihr drittes mit einer Zahl im Titel – etwas, das sie neben Trinkfestigkeit, Humor und Hang zur Melancholie mit ihrer britischen Kollegin Adele verbindet. Das Wort ‚Zahl’ und nicht ‚Alter’ ist bewusst gewählt, denn es fällt leicht, sich noch eine ganz andere Bedeutung dieses Titels zu erschließen. „55“ könnte genauso gut eine recht präzise Angabe darüber sein, wie viele Herzen in ihrer Brust schlagen. Wie viele verschiedene Ina Müllers in der einen, der absoluten, der ultimativen Ina Müller wohnen. Viele davon haben wir über die Jahre auf ihren Alben kennenlernen dürfen – laut und in Zwischentönen – auf ihrem neuen Album stellt sie uns nun 12 neue vor, die ganz verschieden und auf wundersame Weise doch völlig logisch; und natürlich eins sind.
Und wieder dürfen wir uns darüber freuen, wie nah sie uns heranlässt; wie wir uns an den Fenstern ihrer vielschichtigen Seele die Nasen platt drücken dürfen. Wir hören eine Ina Müller, die wir kennen und gleichzeitig auch nicht. Wenn sie etwa singt, sie fühle sich „wie neugebor’n, nur gut 50 Jahre älter“, weiß man instinktiv was sie meint, während sie das Kunststück fertigbringt unverbraucht, manchmal fast kindlich verspielt und dabei resolut und weise zu klingen. Gerade in den kleinen Widersprüchen spürt man die Wahrhaftigkeit.
Doch was sind das für Ina Müllers, die wir hier kennenlernen dürfen und die so selbstverständlich weit über die bewährte ‚Müllerische Dreifaltigkeit: Singen, Sabbeln und Saufen’ hinausgehen? Da ist der ehemalige Teenager, der sich über die Ungeschicklich- und Peinlichkeiten des „ersten halben Mals“ austauscht – schonungslos, aber ohne verletzend zu sein. Oder das zuckerhungrige Monster, das ohne Schokolade im Haus versehentlich ganz gemeine Sachen sagt, die nach dem ersten Gummibärchen aber sofort die Gültigkeit verlieren.
Direkt daneben die Einsicht der eigenen Endlichkeit – eine Bestandsaufnahme verpasster Chancen und Träume. Hart aber nicht bitter und mit der Hoffnung sowie dem Versprechen, ab jetzt jeden Tag dreifach zählen zu lassen. Das innere Eichhörnchen, das die Autoschlüssel in den Kühlschrank legt oder der altersmilde Schweinehund, der statt durch den Park lieber gemütlich zum Kiosk läuft. Dazwischen die Erkenntnis, dass „fast“ manchmal länger hält als „fest“ und ein traurig schönes, zweischneidiges Liebeslied an die Zigarette.
Man kennt Ina Müller als laut und direkt. Leise und direkt steht ihr aber genauso gut.
Immer wieder paart sie Humor mit Zerbrechlichkeit, macht sich unangreifbar, indem sie sich so angreifbar macht und greift dann genau im richtigen Augenblick unpeinlich zu größeren Gesten. Wer eine Ina Müller-Platte im Schrank hat, hat auch eine Freundin für so ziemlich alle Lebenslagen. Wenn man ihr zuhört, stellt sich manchmal ein spannender Effekt ein. Plötzlich fühlt es sich an, als würden wir nicht Ina Müller, sondern sie uns zuhören. Dabei ertappt sie uns bei unseren kleinen Alltagssünden ohne uns bloß zu stellen, tippt uns aufmunternd auf die Schulter, um im nächsten Moment gemeinsam mit uns über das alles zu lachen. Weil es immer wieder Details zu entdecken gibt, ist jedes Album ein sicherer Ort, an dem täglich frische Blumen stehen. Blumen aus Worten, aus Momenten – Blumen aus Liedern.
Es gibt Künstler*innen, denen schnell die Themen ausgehen. Sie bleiben stehen, werden müde und selbstgerecht. Und es gibt Ina Müller. Und solange sie singt, geht alles immer irgendwie weiter. Das kann man hören. Und das kann man fühlen.
Quelle/Foto: MCS